Deeskalation, oder: Was haben Arztpraxen und Energieversorger gemein?
Deeskalation gewinnt in helfenden Berufen und den Branchen der Infrastruktur an Bedeutung. Erfolgreiche Deeskalation erfordert individuelles Training, aber ebenso eine geeignete Organisationsgestaltung.
Wie man in emotional aufgeladenen und eskalierenden Situationen die Kontrolle behält
Was haben Arztpraxen und Energieversorger zurzeit gemein? Zwei Dinge: 1. Sie bieten Leistungen, die jeder von uns dringend benötigt und deren zuverlässige Bereitstellung in hoher Qualität ein großes Glück für unsere Gesellschaft darstellt Und 2.: Beide haben zunehmend mit grenzwertigen Konfliktsituationen zu tun, weil mehr und mehr Menschen nicht mehr in der Lage sind, ihre individuellen Frustrationen unter Kontrolle zu halten.
Hintergrund Deeskalationstraining
Vor einem Jahr erhielten wir die Anfrage einer Kinderarztpraxis mit der Bitte, ein Training zu Deeskalationstechniken, Konfliktbewältigung und individueller Eigensicherung durchzuführen. Wir waren verblüfft: Eine Kinderarztpraxis mit Bedarf an Deeskalation? Doch der Bedarf war real, und dabei ging es nicht um verzweifelte Eltern, die bei schlimmen Diagnosen oder fehlenden Behandlungsmöglichkeiten außer sich geraten. Solche Situationen sind Teil des Berufsbilds, auf deren Deeskalation das medizinische Personal vorbereitet ist.
Vielmehr wurden die Kinderärztinnen und ihre Angestellten persönlich „hart angegangen“ und bedroht, weil sie aus schierer Überlastung nicht schnell genug Termine zur Verfügung stellen konnten oder weil sie nicht bereit waren, Kassenrezepte ohne Krankenkassenkarte auszustellen. Oder einfach nur, weil sie Impfungen gegen das Corona-Virus anboten. Die Reizschwelle scheint niedriger zu werden, und es fehlt offensichtlich die Fähigkeit, einen Dissens kommunikativ und mit Respekt auszutragen. Selbst gegenüber Menschen, auf die wir angewiesen sind, weil sie uns oder sogar unseren Kindern helfen sollen.
Aktuell trifft es nun verstärkt die Energieversorger und weitere Branchen wie z.B. die Wohnungsgesellschaften, wo die Auswirkungen der Ukraine-Krise spürbar im Geldbeutel Widerhall findet. Auch diese Organisationen werden dringend benötigt, und auch sie sehen sich verstärkt Angriffen verbaler bis hin zu brachialer Art und Weise ausgesetzt. Und erneut sind es nicht nur die verzweifelten Menschen, denen z.B. der Strom abgestellt wird, die aggressiv reagieren. Vielmehr weitet sich der Kreis der Angreifenden aus, und Ziel der Angriffe werden zunehmend auch z.B. Reparaturteams, die die Strom- oder Gasversorgung im Fall von Störungen wieder her- und sicherzustellen versuchen.
Für die Angegriffenen ist die Situation in mehrfacher Hinsicht sehr herausfordernd bis verstörend und mit vielen Fragen verknüpft, die zu tiefgreifender Verunsicherung führen können:
- Welchen Grund hat mein Gegenüber, mich anzugreifen?
- Wieso trifft es mich, wo ich doch nur helfen will?
- Wie bleibe ich in Kontrolle, wenn die Wut über die erlebte Ungerechtigkeit mich aus der Fassung zu bringen droht?
- Wie kann ich mit der Irrationalität der anderen Seite umgehen und welche Wege gibt es, ihn oder sie zu beruhigen?
- Wie gehe ich damit um, wenn ich mich ernsthaft bedroht fühle und mich schützen muss?
- Und wie gehe ich mit dem Gefühl der Hilflosigkeit und des Ausgeliefertseins um, dass sich in mir aufgebaut hat?
Eskalationsstufen und Strategien zur Deeskalation
Gerade die zuletzt genannten Gefühle der Hilflosigkeit und des Ausgeliefertseins ist für Betroffene besonders schwer auszuhalten, noch einmal verstärkt durch die erlebte Ungerechtigkeit (ich will doch helfen und werde trotzdem angegriffen!). In Deeskalationstrainings zielen wir daher darauf ab, für unsere Teilnehmenden die Situation früh wahrzunehmen sowie verständlicher und beherrschbarer zu machen. Dazu arbeiten wir an Fragen wie diesen:
- Was geschieht mit mir in Situationen, in denen ich mich bedroht fühle, körperlich und psychisch?
In Konfrontationen werden viele bewusste und unbewusste Reaktionen ausgelöst. Sie zu verstehen hilft, sie als weniger bedrohlich zu empfinden. Genauso hilft das Wissen, dass einmal ausgeschüttete Hormone einfach eine gewisse Zeit brauchen, um sich wieder abzubauen. Niemand kann sie wegzaubern, und trotzdem kann ich mich auch „selbst deeskalieren“.
- Wieso fühlt sich diese Ungerechtigkeit so schlimm an?
Gerechtigkeit ist ein tief in uns angelegtes Bedürfnis, so tief, dass sich selbst im Tierreich Beispiele finden lassen, in denen Ungerechtigkeit zur Eskalation führt. Die Frage ist jedoch: Welches Gerechtigkeitsprinzip steht gerade im Vordergrund? Verteilungsgerechtigkeit, also jeder erhält gleich viel? Bedarfsgerechtigkeit, also jeder erhält, was er benötigt? Leistungsgerechtigkeit, also jeder erhält in dem Maß, wie er oder sie geleistet hat? Oder leisten wird? Wer sich klar macht, wie unterschiedlich Gerechtigkeit erlebt wird, kann schneller verstehen, leichter und flexibler reagieren und damit Deeskalation bewirken. - Wie kann ich mit Bedrohungen umgehen?
Selbstschutz und Eigensicherung haben oberste Priorität. Voraussetzung dafür ist eine sensible, geschulte Wahrnehmung, die auch die eigene Intuition ernst nimmt. Außerdem braucht es Wissen über taktisches Verhalten, eine bewusste Gestaltung von Nähe und Distanz sowie die gesamte Palette der verbalen und non-verbalen Kommunikation. Es existiert ein Füllhorn an Möglichkeiten. Bloß: in kritischen Momenten fällt mir nur das ein, was ich schon kenne. Wer sein Verhaltensrepertoire also erweitern möchte, muss Möglichkeiten dazu im Vorhinein prüfen, erkunden und erproben, am besten im Rollenspiel. Machen ist hier wie so oft besser als nur drüber reden! - Wie sieht die Welt aus der Perspektive meines Gegenübers aus?
Wer es schafft, sich in sein Gegenüber hineinzuversetzen, stellt nicht selten fest, dass die Erregung oder Wut der anderen Seite zu einem gewissen Grad nachvollziehbar werden. In der gleichen Situation wäre man selbst vielleicht auch auf 180, selbst wenn man deswegen niemanden angreifen würde. Wer das versteht, kann die Emotionen des Anderen abfangen, selbst dann, wenn das zugrunde liegende Problem nicht gelöst wird. „Ich verstehe, dass Du wütend bist. Ich wäre es an deiner Stelle auch. Ich habe das auch genauso erlebt. Ich wünschte, ich könnte mehr für dich tun!“ Damit erkenne ich an, dass mein Gegenüber kein durchgeknallter Psychopath oder aggressiver Wirrkopf ist, sondern ein normaler Mensch, der wütend ist und dessen Wut vermutlich einen Grund hat. Anders formuliert: ich gestehe meinem Gegenüber eine eigene Meinung und eigene Empfindungen zu, die von meinen abweichen können.
Wahrgenommen und verstanden zu werden (nicht jedoch: „recht bekommen“!) sind Grundbedürfnisse, und Menschen wenden viel Energie auf um sie einzufordern. Wer zeigt, dass er den anderen wahrnimmt und seine oder ihre Perspektive zwar vielleicht nicht teilt, aber respektiert, kann diese Energie aus dem Prozess nehmen.
Aber Vorsicht: diese Strategie funktioniert nur, wenn sie ehrlich gemeint ist. Wer glaubt, mit vorgefertigten Floskeln deeskalierend wirken zu können, wird in den meisten Fällen das Gegenteil erreichen. Nur echte, gewollte und emphatische Perspektivenübernahme hilft und ist dann eines der wirksamsten Mittel zur Deeskalation.
- Wie drücke ich mich „richtig“ aus?
Richtig meint natürlich: So, dass ich den anderen beruhige und nicht noch zusätzlich reize…und ich mich dabei noch sicher und wirksam fühle. Hier gäbe es nun in der Tat viele Möglichkeiten zu besprechen und vor allem zu erproben. Ihre Wirksamkeit hängt sehr vom Kontext ab, dem eigenen Kommunikationsstil und dem Auftreten meines Gegenübers. Da hilft also erneut nur, verschiedene Varianten in Rollenspielen auszuprobieren, zu üben und sich gegenseitig Feedback zu geben, wie man gewirkt hat. Das fühlt sich zunächst fremd und künstlich an, lohnt sich aber und wird im Lauf der Zeit immer besser und einfacher.
Reicht das denn dann aus?
Die klare Antwort lautet: Nein! Das Training Betroffener ist zwar wichtig, Deeskalation ist aber eine Aufgabe der gesamten Organisation mit vielen Ansatzpunkten. Wirksam sind z.B.
- eine hohe Sensibilität und das Antizipieren schon von schwachen Signalen, um „vor die Gewalt oder das Ereignis zu kommen“
- funktionierende und geübte Kommunikations- und Notfallprozesse
- abgestimmte und immer wieder rückversicherte Unterstützung im Team untereinander und durch die Führungskraft
- eine resilienzfördernde Unternehmenskultur
Weitere Ansatzpunkte ergeben sich im Allgemeinen, sobald die Arbeit mit diesem Thema ernsthaft begonnen wird. Das „was“ und „wie genau“ ist von Haus zu Haus sehr unterschiedlich und gestaltet sich in jedem unserer Beratungsaufträge neu.
Wie geht es Euch in Euren Organisationen? Seid Ihr betroffen oder kennt Ihr Betroffene? Findet Ihr, dass Ihr und Eure Organisation zu dem Thema gut aufgestellt seid? Oder sucht Ihr Unterstützung und Beratung?
Ich freue mich über Eure Kommentare, Anmerkungen und Fragen!
Herzlich,
Mario von compleneo Consulting
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